Mikrobiom.... Ein eigener Kosmos in unserem Körper.

Der menschliche Darm ist bei Gesunden mit Tausenden von Bakterienarten besiedelt, so schätzen die Mikrobiologen. Viele Wissenschaftler betrachten die Darmflora mit einem Gewicht von mehr als einem Kilogramm inzwischen als eigenes Organ, dessen Komponenten für lokale und systemische Vorgänge verantwortlich sind, also für die Nährstofftransformation, die Vitaminversorgung, die Reifung der Schleimhautimmunität, aber auch für die Kommunikation zwischen Darm und Gehirn sowie für die Tumorprogression. Es wurde berechnet, dass etwa 1014 (also 100 Billionen) Keime, vor allem Bakterien, den Darm eines gesunden Erwachsenen besiedeln. Es gibt etwa zehnmal mehr Mikroben im Körper und auf der Haut eines gesunden Menschen, als dieser Körperzellen hat. Die Zusammensetzung der Keime ist nie gleich, sondern verändert sich im Laufe des Lebens. Das ist zum Beispiel erkennbar am Verhältnis der Bakterien-Stämme Firmicutes zu Bacteroidetes. Die Ratio liegt in der Kindheit bei 0,4, sie wächst bei Erwachsenen in den kommenden Jahren auf fast 11,0 und sinkt im Alter wieder auf 0,6, wie französische Gastroenterologen herausgefunden haben. Mit über 90 Prozent Anteil sind die beiden Stämme im Darm die häufigsten Bakterien, und ihr Verhältnis verändert sich auch bei Erkrankungen, was labordiagnostisch genutzt wird. Bei Patienten mit Adipositas etwa dominieren Firmicutes.

Dass sich die Mikrobiota-Population bei Patienten, etwa Krebskranken, im Vergleich zu Gesunden anders zusammensetzt, muss nicht immer ein negatives Zeichen sein, sondern kann sich offenbar auch positiv auswirken. In einer aktuellen Studie stellte sich zum Beispiel bei Patienten mit hämatologischen Malignomen heraus, dass nach einer Stammzelltransplantation die Wahrscheinlichkeit für ein Rezidiv oder für ein Fortschreiten der Erkrankung verringert ist, wenn sich in den Stuhlproben besonders viele Bakterien der Art Eubacterium limosum tummeln (JCO 2017; online 15. März). Unklar ist noch, ob diese Keime tatsächlich einen protektiven Effekt haben und wie dieser vermittelt wird. In einer anderen, noch laufenden Studie mit Patienten, in der die Besiedelung mit Clostridium difficile nach einer allogenen Stammzelltransplantation verhindert werden soll, erhalten die Studienteilnehmer ihre eigene, vor der Transplantation vorhandene, unveränderte Darmflora nach dem Eingriff zurück, in der Hoffnung, dass sie damit wieder genug Bacteroidetes-Keime zurückerhalten, die einen protektiven Effekt haben und bei Gesunden gemeinsam mit Keimen des Bakterienstammes Firmicutes das Feld dominieren.

Nicht zuletzt die Übertragung von Stuhl oder aus Stuhl gewonnenen Bakterien etwa bei Patienten mit therapierefraktären Clostridium-difficile-assoziierten Diarrhöen oder mit Colitis ulcerosa zeigt, wie groß in der Medizin inzwischen das Interesse ist, mithilfe von Forschungsergebnissen zur Darmflora auch neue Therapieansätze entwickeln zu können. Inzwischen sind im zentralen Studienregister der US-Nationalen Gesundheitsinstitute bis zu 2000 Studien dokumentiert, die in irgendeiner Form Mikrobiota oder Informationen über dieses Ökosystem nutzen. Und analog zum Humanen Genomprojekt zur Entschlüsselung des menschlichen Erbguts wurde bereits 2007 das "Human Microbiome Project" gestartet, innerhalb dessen sich Wissenschaftler derzeit in drei aktuellen Projekten mit dem Zusammenhang zwischen dem Mikrobiom und Schwangerschaft / Frühgeburt sowie der Entstehung des Typ-2-Diabetes und entzündlicher Darmerkrankungen beschäftigen. Der Aspekt "Mikrobiom und Diabetes/metabolisches Syndrom" wird auch Thema auf dem diesjährigen Internistenkongress in Mannheim sein.

Bereits vor zwei Jahren haben US-Forscher Hinweise darauf entdeckt, dass von der Zusammensetzung der Darmflora Hinweise auf die Diabetesprogression gibt. Patienten mit Autoantikörpern gegen Inselzellen und neu diagnostizierte Typ-1-Diabetiker hatten demnach eine unterschiedlich starke Besiedlung mit den Firmicutes-Bakterien Lactobacillus und Staphylococcus im Vergleich zu Gesunden ohne Diabetes mellitus in der Familienanamnese (Diabetes 2015; 64: 3510–3520). Ob die unterschiedliche bakterielle Zusammensetzung oder die unterschiedlichen Aktivitäten der Keime ursächlich mit der Krankheitsentstehung zusammenhängen, muss noch geklärt werden. Nicht genau verstanden ist zudem, wie die Keime das Immunsystem im Zusammenhang mit der Diabetesentstehung modulieren. Nicht zuletzt bei der Entstehung von Typ-2-Diabetes wird ein kausaler Zusammenhang mit der veränderten Zusammensetzung der Darmflora vermutet, etwa über Induktion und Regulation der Adipositas.

Teil der Darmflora sind außer Bakterien aber auch Viren. Denn wo Bakterien zuhauf sind, sind auch Bakteriophagen nicht weit, das gilt nicht nur für den Darm, sondern auch für die Haut, die Mundhöhle und die Harnwege. Diese Viren können die Keime dezimieren oder sich in deren Erbgut integrieren und dadurch eher einen Nutzen für die Einzeller durch Bereitstellen bestimmter Gene darstellen. Solche Gene können etwa den Bauplan für Enzyme zum Abbau von Komplement-Komponenten und Immunglobulinen enthalten und somit die befallenen Bakterien vor Angriffen des Immunsystems schützen. Die Beobachtung, dass Menschen in einem gemeinsamen Haushalt sich auch manche Darmflorabewohner teilen, gilt nicht nur für Bakterien, sondern offenbar auch für Bakteriophagen. Intime Kontakte sind dafür wohl keine Voraussetzung (Microbiome 2016; 4: 64).

Mittels der Gen-Sequenzierung und der Bioinformatik ist es inzwischen möglich, auch äußerst komplexe Metagenome, also die Gene aus einer Bakterienmixtur, rasch zu analysieren. Ziel dabei ist es, individuelle mikrobielle Risikoprofile zu identifizieren, die Menschen zum Beispiel für eine MS anfällig machen. Denn das Mikrobiom hat laut Professor Dr. Hartmut Wekerle, Hertie- Seniorprofessor am Max-Planck-Institut für Neurobiologie in München, eine entscheidende Bedeutung bei der Pathogenese der MS. „Daraus können sich völlig neue Möglichkeiten zur Vorbeugung und Therapie der Multiplen Sklerose ergeben“, hofft Wekerle.

Dass es zwischen der Darmflora eines Menschen und der Entstehung der Multiplen Sklerose Assoziationen gibt, wies der Forscher bereits tierexperimentell nach. Er arbeitete dabei mit genetisch veränderten Mäusen. Wurden diese unter sauberen, aber nicht keimfreien Bedingungen gehalten, entwickelten sie eine Krankheit, die der schubförmigen MS ähnlich ist – die experimentell-autoimmune Enzephalomyelitis, kurz EAE. Herrschte dagegen Keimfreiheit, waren die Tiere vor dieser Krankheit geschützt. Sobald jedoch der Darm „keimfreier“ Mäuse mit der Darmflora von normal aufgewachsenen Tieren besiedelt wurde, erkrankten sie spontan an EAE. „Offensichtlich wird in diesem Modell die Autoimmunreaktion gegen Gewebe des Zentralen Nervensystems von den Darmmikrobiota quasi ferngesteuert‘“, vermutet Wekerle.

Welche Bakterien konkret hierfür verantwortlich zeichnen und in welcher Anzahl sie im menschlichen Darm vorkommen, hängt entscheidend von der Ernährung und von immunologischen Prozessen im Darm ab. An dieser Interaktion zwischen MS, Ernährung und der Darmflora forschen auch die Neurologen Professor Dr. Ralf Gold, Erster Vorsitzender der DGN, und Dr. Aiden Haghikia von der Ruhr-Universität Bochum gemeinsam mit Neurologen aus Erlangen. Diese konnten schon früher zeigen, dass Kochsalz eine entzündungsfördernde Wirkung bei der MS entfalten kann. Auch die Zusammensetzung verschiedener Fettsäuren in der Nahrung scheint die Entwicklung der Autoimmunerkrankung zu beeinflussen, wie noch unveröffentlichte Studienergebnisse belegen. Sie verändern das Vorkommen bestimmter Immunzellen, die an der Entstehung und dem Verlauf der Multiplen Sklerose beteiligt sind. Die Forscher arbeiten daher bereits an der Entwicklung einer Fettsäure-Diät für MS-Patienten.

Dass die Ernährung die Entwicklung der MS beeinflussen kann, zeigen auch Befunde, wonach die MS-Häufigkeit in Japan in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen hat. Ein Grund hierfür könnte die Umstellung der traditionellen asiatischen Ernährung auf westliche Ernährungsgewohnheiten und die damit verbundene Veränderung der Darmflora sein, vermuten Forscher.

Die aktuellen Forschungsergebnisse nähren Hoffnungen, in Zukunft die Darmflora gezielt über die Ernährung und beispielweise über Präbiotika und Probiotika modulieren zu können. Auch Antibiotika könnten die Zusammensetzung des Mikrobioms verändern. Untersucht wird ferner, inwieweit durch eine Fäkaltransplantation die MS zu beeinflussen ist. Das Verfahren wurde bereits bei Patienten mit einer schweren Darminfektion erfolgreich eingesetzt.

Welche Rolle die Darmflora bei Patienten nach einem Schlaganfall spielt, analysiert Professor Dr. Ulrich Dirnagl von der Charité-Universitätsmedizin Berlin. „Wir haben festgestellt, dass viele Schlaganfallpatienten eine Pneumonie entwickeln und uns gefragt, woher die Bakterien kommen“, sagt Dirnagl. „Der Darm mit etwa einem Kilo Bakterien wäre eine plausible Quelle.“

Der Forscher konnte zeigen, dass nach einem Schlaganfall mehrere Prozesse stattfinden, zum Beispiel eine Veränderung des Immunsystems, der Zusammensetzung der Mikrobiota und der Darmdurchlässigkeit. „Die Barriere des Darms bricht zusammen“, erklärt Dirnagl. Damit wankt auch die Darm-Hirn-Achse, da der Schlaganfall das autonome Nervensystem moduliert, was sich wiederum auf den Darm mit seinen Milliarden Nerven- und Immunzellen auswirkt. „Der Schlaganfall ist somit kein reines Gefäß- oder Gehirnproblem.“ Vorstellbar sei in Zukunft eine Supplementierung mit Probiotika bei Schlaganfallpatienten - nicht als alleinige Therapie, aber unterstützend in einem umfassenden Behandlungskonzept. „Die Patienten schlucken dann zum Beispiel Bakterienarten, die das Mikrobiom positiv verändern.“

Einer anderen Theorie geht Professor Dr. Claudio Franceschi von der Universität Bologna nach: Er prüft bei 100-Jährigen und deren Nachkommen, inwieweit leichte chronische Entzündungsreaktionen im Sinne eines „Inflammagings“ Alterungsprozesse begünstigen und möglicherweise den geistigen Abbau im Alter fördern können.